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Trend: Diagnose – Warum echte Begegnung dort beginnt, wo Label enden

ADHS, Autismus-Spektrum-Störung, Hochbegabung, High Sensitivity und „hypersensitive“ Persönlichkeitsstrukturen – zusammengefasst unter dem Schlagwort Neurodivergenz – sind gerade in aller Munde. Die Magazine sind voll damit, die digitalen Medien sowieso, und auch im Alltag, in Familien und Schulen taucht es immer häufiger auf. Selbst in unserer freien Schule wird es zum Dauerthema. Und ganz ehrlich: es lässt mich gleichzeitig traurig, neugierig und innerlich brodelnd zurück

Mir kommt vor, wir leben in einer Zeit, in der das Schubladisieren von Menschen wieder Hochkonjunktur feiert. Und genau das halte ich für sehr bedenklich und gefährlich. Wir rennen mit Vollgas in die falsche Richtung.

Diagnose als Identität

Neulich im Zug nach München habe ich mir – aus purer Neugier – eines dieser Klatschblätter gekauft. Eine der Topstorys: Ein Mann erzählt, wie sehr er seine Frau jetzt „besser versteht“, seit sie die Diagnose ADHS hat.
Er weiß jetzt: Sie ist halt vergesslich. Macht immer alles gleichzeitig. Kommt ständig zu spät. Hat tausend Pläne.
Und natürlich: Seit die Kinder da sind, sei alles „noch viel schlimmer“. Klare Sache – ADHS.

Aber sind wir wirklich an dem Punkt angekommen, an dem wir Labels brauchen, um uns gegenseitig zu verstehen?
Für mich lautet die Antwort: Nein.

Diese Etiketten bringen uns eher weg von uns selbst – weg von unseren Empfindungen, unseren Bedürfnissen, unserer Fähigkeit zur Selbstreflexion. Ich sehe darin einen gesellschaftlichen Mechanismus: ein Ventil, um zu rechtfertigen, dass man der Geschwindigkeit und den Anforderungen unserer Zeit nicht mehr standhält. Oder sie schlicht für falsch hält.

„Ich bin nicht normal, weil ich habe ja…

Doch genau hier liegt das Problem: Eine Diagnose kann zu einem bequemen Ausstieg aus der Eigenverantwortung werden. Sie ersetzt nicht die eigentliche Wurzel. Und die liegt oft darin, dass unsere gesellschaftlichen Strukturen uns zermürben, wenn wir uns ihnen blind ausliefern.
Eine Diagnose macht es leichter, sich zu erklären – aber schwerer, klare Grenzen zu setzen und den eigenen Bedürfnissen wirklich zu folgen. Und was, wie ich finde, noch viel dramatischer ist: Der Fokus wird auf einen vermeintlichen Mangel gelegt. Dabei wissen wir aus der Hirnforschung, dass der Fokus auf das gerichtet werden sollte, was wir in unserem Leben, erleben, haben und sein wollen.

Kinder in der Diagnosefalle

Bei Kindern ist das Thema für mich noch sichtbarer – und härter. Sie sind ausgeliefert.
War es in meiner Schulzeit noch die Legasthenie, ist heute gefühlt kaum ein Kind ohne Diagnose. Erwachsene diagnostizieren Kinder, die sie fünf Minuten gesehen haben. Das zeigt, wie selbstverständlich dieses „In-Schubladen-Stecken“ geworden ist.

Für mich ist klar: Viele Eltern holen sich eine Diagnose fürs Kind, damit es in der Schule leichter wird. Oder um sich selbst keine Gedanken machen zu müssen, warum das Kind so reagiert wie es eben reagiert.
Aber was macht das mit unseren Kindern? Und vor allem: Wer definiert eigentlich die Parameter?

Kinder übernehmen schnell die Botschaft:
Ich bin falsch. Ich bin nicht normal. Ich bin nicht richtig.
Wollen wir das wirklich?

Gefühle zeigen – laut, zornig, wild oder auch leise, verschlossen, ängstlich – und schon steht irgendwo eine Diagnose im Raum. Dabei sind es oft die Kinder, die uns spiegeln, was gerade passiert. In der Gesellschaft, aber auch in den Familien.
Ich kann das Verhalten eines Kindes niemals getrennt vom Verhalten seiner Eltern und dem gesellschaftlichen Umfeld sehen. Kinder sind der ehrlichste Spiegel, den wir haben.

Mich erstaunt es immer wieder, wie viele Erwachsene sich über die Gefühlsausbrüche ihrer Kinder beschweren – aber nicht hinspüren, was es mit ihnen selbst zu tun hat. Vielleicht äußert zu Hause niemand seine Gefühle. Vielleicht wird passive Aggression vorgelebt.
Wir können unsere Kinder niemals als getrennt von uns betrachten.

Rebeca Wild, Mitgründerin der Pestalozzi-Schule, sagte:
„Kinder agieren immer in ihrer aktuellen Entwicklungsfähigkeit. Wir müssen ihre Lebensprozesse respektieren.“
Und genau darum geht es.

Als mein Sohn in der Kindergruppe war, kam eine Pädagogin und fragte, ob ich ihn schon auf Hochbegabung testen ließ. Natürlich nicht.
Denn was mache ich mit dieser Information? Oder besser gesagt: Was macht die Gesellschaft daraus?

Kann ich dann seine manchmal fehlende Impulskontrolle rechtfertigen? Genau so wirkt es oft.
Dabei brauchen Kinder vor allem eines: ein echtes Verstehen, egal welche Gefühle gerade da sind.

Ich selbst weiß natürlich, dass mein Sohn hochbegabt ist – genauso wie meine Tochter und ich auch, sowie jeder Mensch eine außergewöhnliche Begabung besitzt.
Wir sind auch hochsensibel und vieles mehr.

Aber das ist ein Teil, nicht die Definition unserer Persönlichkeit.

Wir müssen aufhören, Auseinandersetzungen und Schimpfen zu stigmatisieren – auch körperliche Auseinandersetzungen. Und dieses ständige Bewerten sein lassen.
Es geht um Annahme. Und um die Selbstverantwortung, bei mir selbst hinzuschauen, wenn mein Kind mal „durchdreht“.

Und glaub mir: Ich kann da ein Lied davon singen. 🙂

Was sind die Parameter?

Eine Sache, die mich extrem wurmt, ist die Tatsache, dass sich Hochbegabung fast ausschließlich auf intellektuelle Leistungen bezieht.
Das zeigt so viel über die Werte unserer Gesellschaft.

Was ist mit den körperlich Hochbegabten (die nennt man dann Talente)? Was ist mit den sozial Hochbegabten? Und was ist mit den emotional Hochbegabten?

Gerade bei ADHS ist oft von der Zappeligkeit die Rede, nicht still sitzen zu können. Tja, ich sehe das eigentlich nicht als Mangel, sondern einen zutiefst menschlichen Ausdruck. Nicht umsonst nennen wir unseren Körper Bewegungsapparat. Mittlerweile ist er vor allem zum Sitzapparat umfunktioniert worden, was aber auf keinen Fall gesund ist.

Was wollen wir als Gesellschaft?

Wollen wir wirklich lauter ruhige, angepasste Kinder, die einer vorgegebenen, nicht immer nachvollziehbaren Norm entsprechen?
Ich will das nicht.

Ich wünsche mir akzeptierte Wildheit, Freiheit und eine echte, präsente Auseinandersetzung – mit Kindern und miteinander.

Es braucht einen Perspektivenwechsel, weg von Krankheit hin zu Gestaltungskraft.

Vielleicht ist es auch wichtig, die viele Bildschirmzeit unter die Lupe zu nehmen, und zwar nicht nur bei den Kindern. Auch bei uns Erwachsenen.

Wo liegt der Sinn?

Ich frage mich oft, warum so viele Menschen Diagnose-Labels brauchen. Was sie ihnen geben.
Selbstverständnis? Selbstakzeptanz? Aufmerksamkeit?

Bin ich verständnisvoller, wenn ein Kind „auszuckt“ und meine Grenze überschreitet, weil es eine Diagnose hat?
Wäre das nicht zutiefst unfair?
Was passiert mit den Kindern ohne Diagnose?
Ich sage es direkt: Sie fallen durchs Raster.

Früher bekamen Frauen, die nicht nach der Pfeife der Männer tanzten, die Diagnose „hysterisch“. Heute schütteln wir darüber die Köpfe.
Doch für mich ist es ganz ähnlich:
Jemand wird unangenehm, unbequem oder hat andere Bedürfnisse – zack, Label drauf.

Was es meiner Meinung wirklich braucht, ist:
Zuhören auf Augenhöhe. Sich selbst annehmen. Die eigenen Bedürfnisse ernst nehmen, statt sie wegzudrücken oder für falsch zu halten.

Zurück zur echten Begegnung

Meine Auffassung vom Menschsein ist, dass wir alle einzigartige Individuen sind.
Manche brauchen mehr Ruhe, andere mehr Aktivität. Manche werden schnell laut, andere ziehen sich zurück.
Die Kunst ist, herauszufinden: Was braucht dieser Mensch? Und was brauche ich?

Das geht nur, wenn wir in uns hineinspüren – und in unsere Kinder.

Wie oft schauen wir ins Handy, wenn ein Kind oder unsere Partnerin oder der Partner etwas besprechen möchte? Sind nicht vielleicht die Gründe von tiefen Unzufriedenheiten ausschlaggebend für ein gewisses Verhalten.

Wir alle haben das Bedürfnis nach Autonomie, Selbstausdruck und Freiheit, aber genauso nach Zugehörigkeit und Verbundenheit.
Und was wir alle brauchen, ist:
ehrliche Begegnung auf Augenhöhe. Echtes Interesse. Echtes Verständnis.

Kein Bewerten. Keine Diagnosen. Keine Schubladen.

Vielfalt leben.
Kein Mensch gleicht dem anderen.

Ich selbst beschäftige ich schon sehr lange mit dem Thema „freudvollem Leben“, und eines der Highlights aus den letzten Jahren war die Erkenntnis aus der Hirnforschung, dass unser Gehirn stets wandelbar ist. Wir können unser Denken und unser Handeln verändern. Immer wieder neu. Nichts ist festgefahren. Sowie früher angenommen wurde. Hier empfehle ich Dr. Joe Dispenza und Dr. Gerald Hüther, die sich dem Thema der Neuroplastizität des Gehirns angenommen haben.

Dieses Thema ist mit Sicherheit ein Trigger für viele Menschen. Weil es oft unsere Hilflosigkeit widerspiegelt. Umso wichtiger ist es hier genau hinzuschauen und bewusst zu entscheiden.

Dort, wo wir einander ohne Urteil begegnen, wird das Leben wieder echt – und wir selbst auch.

Mich interessiert sehr, was du darüber denkst. Bitte schreib es doch in die Kommentare.

Ahja, ich spiele im Dezember noch einmal das „Spiel des Seins“. Falls dich das interessiert, melde dich gerne bei mir, oder schau auf meine Website.

Eine entspannte und freudvolle Zeit wünsche ich von Herzen.

In Verbundenheit

Nora Summer

Speakerin, Stuntwoman, Astrologin und Autorin aus Klosterneuburg

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